Das ideale Leben zwischen familiärem Glück und göttlicher Ordnung
von Anna-Katharina Höpflinger und Verena Marie Eberhardt

von Anna-Katharina Höpflinger und Verena Marie Eberhardt
Die Erfahrung zeigt uns, dass das Leben vor allem aus Zufällen besteht. Lebenspläne, die uns beispielsweise auf Social Media begegnen, die uns Lifecoaches oder Karriereberatungen vorschlagen, versuchen diese Zufälle zu ordnen und mit Orientierung zu versehen. Damit wird ein ideales Leben konstruiert und eine starke Vorstellung des Selbst geformt. Dies ist keine neue Entwicklung.
Ein prominentes Motiv in der europäischen Religionsgeschichte, das die Frage des idealen Lebens aufnimmt, ist die Lebenstreppe. Dieses Motiv, das seit dem 16. Jh. zu fassen ist, ordnet das Leben des Menschen in ideale Lebensstufen ein. Diese folgen dem Alter und beginnen unten mit der Geburt, gehen auf einen Lebenshöhepunkt zu und steigen wieder ab bis zum Tod. Was als Höhepunkt inszeniert wird und wie die einzelnen Stufen aussehen, ist je nach Ausführung anders.
Das Bild, das um 1900 entstanden ist, zeigt das ideale Leben der Frau, wobei jede der neun Stufen zehn Lebensjahre umfasst. Die Pyramide beginnt mit dem 10-jährigen Mädchen, das Tennis spielt, und endet mit der 90-jährigen Frau, die zusammengesunken im Sessel auf den Tod harrt. Die Sprüche dazu lauten: «Zehn Jahr, das Kind im Flügelkleid / Geniesst der Unschuld Seligkeit!» und «Mit neunzig Jahr längst schneeweiss / Denkt sie nur an die letzte Reis’».
Der Höhepunkt wird hier mit 50 Jahren gesetzt, als das erste Enkelkind kommt. Die Frau wird auf fast allen Stufen von anderen Personen begleitet, etwa von ihrem Mann oder den Enkeln; dabei wird das familiäre Miteinander betont. Im Zentrum der Treppe sind religiöse Szenen angesiedelt: Wir sehen die Erschaffung Evas aus der Rippe von Adam durch einen männlichen Gott. Links und rechts davon begleiten Engel die Frau als Baby ins Diesseits und als Sterbende ins Jenseits.
Die Abbildung als Treppe inszeniert das Leben als fortschreitenden und gleichzeitig gestuften Prozess von der Kindheit bis ins Alter. Mit Bildern der Geburt und des Todes, die neben dem Garten Eden platziert sind, bettet die Darstellung das Leben in ein religiöses Weltbild ein, das Werden und Vergehen als Stadien eines Kreislaufes andeutet.
Mit dieser Konzeption bezieht sich das Bild auf mittelalterliche Darstellungen des Schicksalsrades, die Glück und Unglück inszenieren und mit der antiken Göttin Fortuna verbunden werden. Das Leben der Frau endet gemäß dem Bild also nicht in der Leere, sondern sie wird zurückgeführt an den Ort ihrer Entstehung, in diesem Fall das Paradies.
Mit dieser Inszenierung werden soziale und religiöse Vorstellungen verbunden. Die Frau wird sozial durch ihre Familie definiert, es entstehen so Ideen von Geschlecht und Lebensführung. Im Kern des Lebens, so das Bild, steht jedoch Religion: Die Schöpfung schreibt die Stellung der Frau fest, die Engel garantieren ihr einen Übergang von und in eine transzendente Welt. Die (damaligen) Erwartungen an das Leben der Frau sind also nicht nur sozial vorbestimmt, sondern gemäß dem Bild Teil eines größeren transzendenten Ganzen.