Ein weiblicher Jesus?

von Jochen Mündlein

Im Diözesanmuseum Graz-Seckau der römisch-katholischen Kirche in der Steiermark trifft man auf eine ungewöhnliche Jesus-Darstellung: Feminine Gesichtszüge, wallendes langes Haar, ein beinlanges Kleid mit der deutlichen Betonung einer weiblichen Brust, goldene Schuhe und ein markanter Bartwuchs. In Verbindung mit dem ikonischen Kreuzigungsmotiv verweigert diese vermeintliche Jesus-Figur eine binär geschlechtliche Einordnung auf unterschiedliche Art und Weise.

Kümmernis/Wilgefortis im Diözesanmuseum Graz. Foto: Jochen Mündlein

In einer ersten Assoziation erinnert die Darstellung an die populärkulturelle Kunstfigur Conchita Wurst, die durch ihren Auftritt beim 59. Eurovision Song Contest 2014 internationale Bekanntheit erlangt hatte. In einem glitzernden Abendkleid, mit wallender Mähne und dunklem Bart verzauberte sie das Publikum und gewann den Wettbewerb. Hinter der Kunstfigur steht der österreichische Sänger Thomas Neuwirth, der mit seiner Performance mit stereotypen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit bricht. Conchita Wursts Erfolg gilt als klares Zeichen gegen Diskriminierung und ruft zur Toleranz gegenüber Menschen auf, die aus einer gesellschaftlichen Norm fallen. Die populärkulturelle Kunstfigur, wie auch die vermeintliche Jesus-Figur im Grazer Museum, verbindet die provokative Repräsentation von Gender jenseits binärer Vorstellungen.

Bei der künstlerischen Jesus-Darstellung handelt es sich jedoch um die mythologische Figur der Wilgefortis, die auch unter dem Namen Heilige Kümmernis bekannt wurde. Während die Kruzifix-Figur auf das 18. Jahrhundert datiert werden kann, reicht der Mythos der Wilgefortis bis in das 14. Jahrhundert zurück. Als junge Königstochter lehnt sie sich gegen den Heiratswunsch des Vaters auf, betet daraufhin die ganze Nacht und erwacht am nächsten Tag mit einem Gesichtsbart. Die bekennende Christin wird vom erbosten Vater an ein Kreuz geschlagen und stirbt als Märtyrerin.

Aus heutiger Sicht lässt sich ihre Darstellung, jenseits der mythologischen Verortung, als Verdichtung von Diskussionen in Bezug auf Gender in der kirchlichen Tradition verstehen. Eine Verbindung von Kreuz und gekreuzigter Person wird in unserer Kultur als Darstellung Christi gedeutet und ist mit der stark normierten Vorstellung dessen Männlichkeit konnotiert. Die Darstellung von geschlechtlicher Binarität ist verbunden mit spannungsvollen Diskursen zu Gendervorstellungen und -konstruktionen von Gott und Mensch in den christlichen Traditionen.

Diese finden sich in institutionellen Fragen zur kirchlichen Ehe ebenso wie auch in medialen Repräsentationen, zum Beispiel in der fiktionalen Papst-Figur im Spielfilm Konklave (Edward Berger, US/UK 2024). Während Gender innerhalb kirchlicher Traditionen häufig über theologische Debatten verhandelt und dabei zu abstrakten Fragestellungen stilisiert wird, fordert die Repräsentation der Wilgefortis alleine durch ihre Sichtbarkeit zur Auseinandersetzung auf. Geschlechtliche Zugehörigkeit wird durch diese bildliche Darstellung in eine gesellschaftliche Debatte – jenseits von Fachdiskursen – verlagert und regt so zur Reflexion über Vorstellungen von Mann und Frau an.

Jochen Mündlein