Die Kraft religiöser Bilder
von Daria Pezzoli-Olgiati

von Daria Pezzoli-Olgiati
Geht man durch die Gassen des historischen Erfurts, entdeckt man eine Skulptur, die in einer äußeren Nische einer gotischen Kirche steht und von einem verzierten Eisentor geschützt ist. Die Mutter Maria hält ihren toten Sohn auf dem Schoß, ihre Hand liegt sanft auf der leblosen, nackten Brust. Marias Blick ist erstarrt, er drückt tiefsten Schmerz und untröstliche Verzweiflung aus. Dieses Motiv, das aus der Passionsgeschichte stammt, isoliert Mutter und Sohn vom Geschehen am Kreuz. Die Skulptur fokussiert auf eine intime Beziehung, sie ist eine Momentaufnahme in einem tragischen Geschehen. Obwohl diese Komposition in der spätmittelalterlichen christlichen Tradition verankert ist, drückt sie eine universale Erfahrung von Verlust und Sinnlosigkeit angesichts eines gewaltsamen Todes aus.
Die Rezeption dieses Motivs wurde nachhaltig von Michelangelos Meisterwerk aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert beeinflusst. Seine Pietà inspirierte und inspiriert heute noch zahlreiche Adaptionen dieses Motivs in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Das Bild der trauernden Mutter, die den toten Körper Jesu trägt, wird in der populären Kultur, in der zeitgenössischen Kunst, im Film, in der Karikatur oder in der Werbung mit unterschiedlichen Zielen und umstrittenen Rezeptionen verwendet.
In den letzten Jahren fallen politischen Adaptionen der Pietà auf: Gerade im Umgang mit aktuellen Krisen wird das Motiv der leidenden Mutter angesichts des gewaltsamen Todes ihres Sohnes neu interpretiert. Ein eindrückliches Beispiel ist die Adaption der Pietà durch den Bildhauer Fabio Viale. Der italienische Bildhauer setzte eine Neuinterpretation von Michelangelos Pietà ins Zentrum einer Performance, die im August 2018 vor Lampedusa stattfand.
Maria trauert um eine leere Stelle: Der Körper Jesu ist nicht da. Platziert auf einem Fischerboot an der südlichsten Grenze Europas scheint diese Mutter auf die Menschen auf der Flucht zu verweisen, die im Mittelmeer ertrunken sind. Diese Pietà scheint den geschützten Rahmen der Basilika San Pietro verlassen zu haben, um nach den gewaltsam verstorbenen Kindern unserer Zeit zu suchen. Der Verweis auf Migration und auf den italienischen sowie europäischen Umgang damit sind offensichtlich. Souvenir Pietà (Madre) nimmt eine Interpretation auf, die Fabio Viale im Januar des gleichen Jahres in einer Galerie in Mailand präsentiert hatte. Ein großformatiges Foto mit dem Titel Lucky Ehi bildete einen liegenden Flüchtling aus Nigeria an der Stelle der Christusfigur ab. Im Raum konnte man seine Geschichte in einer Audioaufnahme hören.
Die wiederaufgegriffene Pietà spricht Menschen an und löst – abhängig von der politischen Gesinnung und den Erwartungen an eine Demokratie – kontroverse Reaktionen aus. Ihre Kraft beruht nicht nur auf der mittelalterlichen Tradition, sondern auch auf den vielfältigen, ja disparaten Adaptionen des Motivs, das längst zum Bestandteil des kulturellen Imaginären auch jenseits christlich geprägter Gesellschaften gehört.
Das ikonische Bild der Mutter, die um den verstorbenen Sohn trauert, illustriert auf eindrückliche Weise, wie religiöse Narrative und Konstellationen Menschen berühren. Unabhängig davon, ob diese Bilder Hoffnung spenden oder Empörung auslösen – gleichgültig lassen sie uns nicht.